Selbstbestimmte Teilhabe
Das Gruppenprogramm zur sozialen Rehabilitation ist vom November 2009 bis Juli 2013 mit Unterstützung des niedersächsischen Sozialministeriums vom Albert-Schweitzer-Familienwerk e.V. Uslar (Kreis Northeim/Südniedersachsen) entwickelt worden. Der vom Ministerium gesetzte Impuls, die methodische Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe unter den Oberbegriffen „Selbstbestimmung“ und „gesellschaftliche Teilhabe“ zu stellen, hat sich dabei als sehr fruchtbar erwiesen. Selbstbestimmung setzt voraus, dass es beim Klienten Interessen gibt, deren Realisierung ihm wichtig ist und über deren weitere Ausgestaltung er selbst bestimmen möchte. Teilhabeprozesse bieten umso mehr Anlässe, sich selbst zu bestimmen, wenn sie von diesen subjektiven Interessen geleitet werden.
Ausschlaggebend für die Teilnahme am sozialen Rehaprogramm nach der Feststellung des Hilfebedarfes1 ist eine „Potenzialanalyse“ der jeweiligen KlientIn. Hierbei geht es um das Herausfinden derjenigen persönlichen Interessen, die inhaltliche Zugangsthemen für einen sozialen Rehabilitationsprozess werden können. Es geht weiterhin um die biografische Bedeutung dieser Themen sowie um die inneren und äußeren Widerstände, die einer gruppenmäßigen Bearbeitung der Interessen entgegenstehen könnten.
Als Grundlage der Potenzialanalyse wurde aus der Gemeinwesenarbeit das Instrument des „aktivierenden Gespräches“ entlehnt und für die besondere Zielgruppe der psychisch erkrankten Menschen weiterentwickelt. Wie bei allen Rehabilitationsprozessen muss ein Mindestmaß an Potenzial vorausgesetzt werden. Nicht jeder Erkrankte ist zu jedem Zeitpunkt in der Lage, mit Erfolg an dieser sozialen Rehabilitation teilzunehmen.
Gruppenbezogenheit
Die Fähigkeit zur „vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe“2 entwickelt sich am besten in Gruppenprozessen, die Interessen an gesellschaftlichen Kontakten aktivieren. Das Rehaprogramm bietet zurzeit 23 Reha-Gruppen an, deren thematische Inhalte sich im Rahmen der Potenzialanalysen ergaben. Durch die konsequente Ausrichtung der Gruppen an den Kliententhemen wird beim Zugang nicht zwischen den KlientInnen der unterschiedlichen Hilfearten unterschieden. Innerhalb der Gruppen begegnen sich Leistungsberechtigte der ambulanten Hilfe wie der Tagesstätte oder des Wohnheims.
Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass sich aus dem Maß des Hilfebedarfs nicht ableiten lässt, ob eine KlientIn für die soziale Rehabilitation geeignet ist. Allein die Potenzial-Analyse kann zeigen, ob ausreichendes Interesse für eine aktive Mitwirkung im Gruppenprogramm gegeben ist.
Die konsequente Ausrichtung an den Klienteninteressen nimmt in Kauf, dass KlientInnen sehr ungünstig zum Veranstaltungsort wohnen. Im Extremfall werden Taxis eingesetzt, um die Teilnahme zu ermöglichen. Mit zunehmender Identifikation der KlientIn mit dem Gruppenprozess werden aber auch Potenziale frei, bestehende öffentliche Verkehrsmittel tatsächlich zu nutzen bzw. sich an Absprachen zur gemeinsamen An- und Abfahrt zu beteiligen.
Phasen der sozialen Rehabilitation
Zur besseren Begleitung und Steuerung des Rehabilitationsprozesses wird das Gruppengeschehen in drei Phasen eingeteilt: die Phase unter dem Zugangsthema, die Phase unter dem Aktivierungsthema und die Phase im Teilhabemodus.
In der Phase unter dem Zugangsthema findet der einzelne Teilnehmer in einem teilweise sehr komplexen Findungsprozess diejenige Gruppe, die seinen inneren Impulsen am ehesten entspricht. Typisch ist die Teilnahme an mehreren Gruppenangeboten und gelegentliche Wechsel. Die Gruppe selbst befindet sich unter dem Zugangsthema ebenfalls noch in einer Findungsphase, die noch nicht ihre endgültige Ausrichtung gefunden hat, mit der sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben möchte.
In der Phase unter dem Aktivierungsthema fokussiert sich der einzelne Teilnehmer immer stärker auf eine bestimmte inhaltliche Thematik, die in ihm starkes soziales Interesse hervorruft, und er beginnt, beispielsweise berufliche Überlegungen hinsichtlich der weiteren Lebensgestaltung zu entwickeln. Die Gruppenteilnahme konzentriert sich auf eine bis zwei Reha-Gruppen, die thematisch für den Einzelnen einen Zusammenhang bilden. Die Gruppe unter dem Aktivierungsthema hat mindestens einen Handlungszusammenhang aufgebaut, in dem sie mit dem gesellschaftlichen Umfeld in Kontakt getreten ist. Sie beginnt, Teilhabe zu organisieren.
In der Phase im Teilhabemodus hat der einzelne Teilnehmer begonnen, seine soziale Situation neu zu organisieren. Er findet eine realistische und ihn motivierende berufliche Perspektive bzw. (wenn er altersmäßig hierfür nicht mehr in Betracht kommt) eine Wohn- und Lebenssituation, in der ein sozial eingebundenes Leben ohne intensive professionelle Unterstützung möglich ist. Die KlientIn bereitet sich in dieser Phase auf ein Leben in Selbständigkeit und in Unabhängigkeit von Eingliederungshilfe vor. Die Gruppe selbst wird in dieser Phase zu einem aktiven Element der Umgebungsgesellschaft, in der sie feste Partner gewinnt. Sie bleibt auch dann für die einzelnen Teilnehmer offen, wenn diese aus dem Reha-Programm erfolgsbedingt ausscheiden. Die Teilnehmer übernehmen dann ihrerseits bestimmte Aufgaben für die Gestaltung des Programms, solange sie der Zusammenarbeit mit ihrer ursprünglichen Reha-Gruppe und deren soziale Zugehörigkeit noch bedürfen.
Der/die einzelne KlientIn entdeckt im Zuge des Gruppenprozesses ihre eigenen Fähigkeiten, sich aktiv und selbstbestimmt an diesen Gruppenaktivitäten und damit am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Die persönlichen Fortschritte korrespondieren mit den Erfolgen der Gruppe. Selbstbestimmung vollzieht sich von Anfang an als Teilhabe an den Aktivitäten der Gruppe. Durch die immer stärker werdenden Interessen der Gruppe, mit ihren Möglichkeiten aktiv auf das gesellschaftliche Umfeld einzuwirken, gerät der Einzelne in ein Geschehen, das in ihm neue Kräfte mobilisiert. Es stellt sich jedem Beteiligten ganz persönlich die Frage, ob es nicht eine aktive Zukunft für ihn selbst geben könnte. Bei den jüngeren KlientInnen kommen Fragen nach der eigenen beruflichen Zukunft auf. Die Älteren denken über Lebensformen nach, bei denen sie so lange wie möglich selbständig leben können.
Es gehört daher zu den erwarteten Rehabilitationserfolgen, dass einzelne KlientInnen beginnen, aus ihren Gruppenerfahrungen heraus Ansätze für eine berufliche Eingliederung zu bilden. Mit der Arbeitsagentur sowie den jeweils zuständigen Jobcentern wird in jedem einzelnen Fall nach einem Weg gesucht, Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation mit der sozialen Rehabilitation zu verknüpfen. Hierbei werden die beim Sozialhilfeträger anfallenden Reha-Kosten von der Arbeitsagentur im Wege des persönlichen Budgets übernommen.
Es kommt daher nicht – wie ansonsten üblich – zu einer Ersetzung des laufenden sozialen Rehabilitationsprozesses mit Maßnahmen der Arbeitsagentur. Dies würde den bis dahin erreichten Rehabilitationsstand erheblich gefährden. Sondern der Rehabilitationsprozess wird fortgesetzt, er füllt sich inhaltlich und zeitlich mit zusätzlichen Inhalten und Erfahrungen, die für die berufliche Rehabilitation wesentlich sind. Denn berufliche Rehabilitation bedeutet immer auch soziale Reha, und diese hat bereits sehr erfolgreich begonnen und durch das Interesse an beruflichen Perspektiven erste Erfolge gezeigt. Es ist folgerichtig, dass von diesem Moment an und für die Dauer der berufsbezogenen Aktivitäten die Kostenträgerschaft für die Teilnahme an diesem Programm von der Eingliederungshilfe auf die Arbeitsagentur übergeht.
Wirkungskontrolle
Zu einer wirksamen Rehabilitation gehört ein Instrumentarium, den Rehabilitationserfolg zu dokumentieren. Ganz im Sinne des ICF, der die soziale Beeinträchtigung des Einzelnen in den Zusammenhang der jeweiligen gesellschaftlichen Umgebung stellt, korrespondiert auch bei der sozialen Rehabilitation die Entwicklung des Einzelnen mit der Entwicklung seiner Gruppe.
Im Rahmen des Gruppenprogramms zur sozialen Rehabilitation wird daher eine neu entwickelte Wirkungsanalyse angewendet, die mehrere Elemente enthält: das schon seit vielen Jahren bundesweit eingesetzte „Sozial-Ökonomische Panel“3, mit dessen Hilfe nicht nur soziale Basisdaten erfasst werden, sondern auch die subjektive Bewertung der eigenen Lebensqualität abgefragt wird; das aus der Salutogenese stammende Instrument zur Messung des „Kohärenzgefühls“4, in dem sich die menschliche Fähigkeit ausdrückt, aktiv und selbständig mit Krankheitssymptomen umzugehen. Ferner führen wir ein Interview mit dem einzelnen Klienten und mit seinem Gruppenmoderator und beobachten den Betroffenen über einen Zeitraum von 2 Stunden im Gruppenprozess. Die Ergebnisse werden schriftlich zusammengefasst, mit dem/der KlientIn und den Moderatoren abgestimmt und mit einer Empfehlung für das weitere Vorgehen dem Kostenträger zur Verfügung gestellt.
Diese Wirkungsanalyse wird jährlich wiederholt. Sie kann dadurch sehr genau die Veränderungen sowohl in Bezug auf handfeste Entwicklungen der sozialen Situation innerhalb und außerhalb der Gruppe wie auch in den subjektiven Einstellungen der Beteiligten dokumentieren.
Hansgeorg Liessem
1 Der Hilfebedarf kann im Rahmen der „ambulanten Hilfe“ oder im Aufnahmeverfahren für Tagesstätte oder Wohnheim festgestellt worden sein.
2 Präambel des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006, in: Bundesgesetzblatt Jahrgang 2008 Teil II Nr. 35, S. 1420
3 www.diw.de/soep
4 Aaron Antonovsky: Salutogenese – Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen: DGVT-Verlag 1997, S. 192 ff.