Die Geschichte der modernen Psychiatrie beginnt mit der französischen Revolution. Das neue Menschenbild erwartet auch für psychisch Erkrankte gesellschaftlichen Respekt und eine Sorge, welche ihre Vorbilder aus der Medizin herleitet.
Zur selben Zeit, aber aus ganz anderen Motiven heraus entwickelt sich in England eine Umgehensweise mit psychisch Erkrankten, bei dem es um Beheimatung, des sich wohnlich Einrichtens, der sozialen Beruhigung in einem gesicherten Milieu geht. Diesen Aspekt kann man nicht aus der Tradition der französichen Ärzte Cabanis, Pinel, Esquirol usw. herleiten. Sie hatten Krankenanstalten vor Augen, als sie begannen, die Kranken aus ihren Gefängnisketten zu befreien. Bei ihnen ging es um Behandlung und damit grundsätzlich um vorübergehende Aufenthalte im Krankenhaus. Um den besonderen sozialpsychiatrischen Aspekt zu verstehen, muss man sich mit der Arbeit von Samuel Tuke beschäftigen.
Tukes Arbeit entwickelte sich nicht im revolutionären Frankreich, ihm ging es nicht um die Befreiung des Bürgers und um das staatlich verbriefte Recht jedes Staatsbürgers, dass ihm bei Krankheit durch das staatliche Gesundheitswesen geholfen wird. Seine Einstellung zu den psychisch Kranken wurde geprägt von seiner Zugehörigkeit zu einer Quäker-Gemeinde in England. Für Tuke hat die Religion eine Doppelrolle, sie ist Natur, gehört zum Leben wie die Atemluft, und ist Regel zugleich, weil „ sie in der althergebrachten Gewohnheit, in der Erziehung, in der täglichen Übung die Tiefe der Natur angenommen hat und gleichzeitig konstantes Prinzip der Zwangsgerechtigkeit ist. Sie ist zugleich Spontaneität und Zwang und besitzt in diesem Maße allein die Kräfte, die beim Verschwinden der Vernunft die maßlose Gewalt des Wahnsinns ausbalancieren können.“ 1
Für den in England aufkommenden Liberalismus gehören kranke Menschen nicht in die Obhut des Staates, sondern in die Familie. „Die Familie wurde so zum Ort gesellschaftlicher Verantwortung. Wenn aber der Kranke der Familie anvertraut werden kann, ist das beim Irren nicht das gleiche, der zu fremd und zu unmenschlich ist. Tuke bildet nun auf künstliche Weise um den Wahnsinn herum eine heiligtumartige Familie, die eine institutionelle Parodie darstellt, aber eine wirkliche psychologische Situation ist. Dort, wo die Familie fehlt, setzt er ein fiktives familiäres Dekor mit Hilfe von Zeichen und Verhaltensweisen an ihre Stelle. …Durch diese fiktiven Werte abgeschlossen, wird das Asyl vor der Geschichte und der gesellschaftlichen Entwicklung geschützt. Im Geiste Tukes handelte es sich um die Bildung eines Milieus, das so menschlich wie möglich und zugleich so wenig sozial wie möglich sei.“ 2
Kennzeichnend für die Arbeitsweise in dieser „Retreat“ genannten und von Samuel Tuke geleiteten Einrichtung in der Nähe von York ist die als „Teeparty“ bezeichnete Veranstaltung, zu der immer wieder kleine Gruppen von Patienten eingeladen wurden. Die Eingeladenen „legen ihre beste Kleidung an und rivalisieren an Höflichkeit und Wohlgesittetheit miteinander. Man bewirtet sie mit dem besten Menü, behandelt sie mit solcher Aufmerksamkeit, als seien sie Fremde. Der Abend verläuft allgemein in bester Harmonie und zu größter Zufriedenheit. Selten kommt es zu unangenehmen Ereignissen. Die Kranken kontrollieren ihre verschiedenen Neigungen in einem außergewöhnlichen Maße. Diese Szene ruft gleichzeitig Erstaunen und eine sehr nahegehende Befriedigung hervor.“ 3
Bei Tuke findet sich also schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts dieses Bemühen, den Kranken im Asyl/Heim ein fiktives familiäres Umfeld zu schaffen, in dem sie sich willkommen fühlen sollen, das ihnen aber gleichzeitig ein verantwortliches Verhalten abverlangt. Man traut dem Betroffenen grundsätzlich zu, sein krankheitsbedingtes Fehlverhalten und seine offensichtlichen sozialen Schwächen in einem entsprechend menschlich zugewandten, aber auch durch klare Regeln geordneten Milieu überwinden zu können. Doch dieses Milieu ist in Wirklichkeit ein künstliches Gebilde, ohne klar strukturierte Verbindungen zum gesellschaftlichen Umfeld. Letztlich verliert diese Einrichtung nie ihren Internierungscharakter. Auch wenn Tuke und seine fachlichen Nachfahren dies gerne so sehen möchten: Auch das Retreat kann den gesellschaftlichen Mechanismus des Ausschlusses der Erkrankten aus der Gesellschaft nicht überwinden. Sein Verdienst liegt darin, den Erkrankten eine Lebensmöglichkeit geschaffen zu haben, in dem sie nicht misshandelt und in ihrer menschlichen Würde aufs tiefste verletzt wurden. Eine Teilhabe an den gesellschaftlichen Prozessen jedoch konnte und kann hier niemals stattfinden.
Hansgeorg Liessem
1 Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1969, S. 513
2 ebenda
3 Samuel Tuke: Description of the Retreat, York 1813, S. 178, zit. bei Michel Foucault, a.a.O. S. 508